einführung

Musik ist Schwarzwälder Sahnetorte der kognitiven Rezeption. Oder: vertrauen Sie Ihrem limbischen System. Zur Eröffnung der Ausstellung „unplugged“. Von Benjamin Denes

Wenn drei Männer die selbe lieben, kann das zu großen Komplikationen führen. Noch dazu, wenn es sich bei den Verliebten um Künstler handelt und bei ihrer Leidenschaft um ein und dieselbe Muse. Sie hat Thomas Schubert zu lyrischen Ergüssen inspiriert. Sie hat Raimund Spierling nächtelang an Collagen arbeiten lassen. Und Christoph Wilcken ist ihr seit Jahrzehnten professionell verfallen. Doch diese Geschichte handelt nicht von Eifersucht, Intrigen und von Duellen im Morgengrauen. Denn die große, gemeinsame Liebe der Herren Schubert, Spierling und Wilcken ist die Musik. Und der Anlass, zu dem wir heute Abend zusammen kommen, die Eröffnung der Ausstellung „unplugged“, ist gewissermaßen eine öffentliche Liebeserklärung.

Kunst trifft Lyrik trifft Musik – wir werden Augen- und Ohren-Zeugen eine multimediale Collage oder wie es einer der Künstler nennt „interdisziplinäre Methode“. Wenn wir heute Abend entscheiden möchten, welche Werke uns gefallen, dann müssen ganz neue Maßstäbe anwenden: Hat das Bild einen Groove? Ist das Gedicht eher dur oder moll? Und welche Farbe hat dieses Lied? Das Zusammenspiel der drei Formen zählt und macht „unplugged“ zu einem sehr spannenden, sinnlich komplexen Experiment. Der heutige Abend ist dabei der Auftakt und gleichzeitig ein Höhepunkt der indisziplinären Begegnung. Im Namen der Künstler danke ich der Paulus-Gemeinde dafür, dass sie hier den Raum für dieses Experiment erhalten haben. Mehr als 40 Bilder von Raimund Spierling hängen hier. Die kleineren sind Skizzen, die bei seinen Konzertbesuchen entstanden sind. Die großen hochformatigen Collagen sind das Ergebnis der kreativen Zusammenspiels mit Thomas Schubert. Die Zeilen, die Fragmente, die Punchlines kommen vom Dichter, der Maler und Grafiker Spierling hat aus ihnen große Collagen gemacht – mit dem Computer, mit Pinsel und Farbe und vor allem mit Herz und Humor. Collagen kann man schlecht aufführen, Gedichte und Musik dafür umso besser. Gleich im Anschluss werden hier die Rolling Stones, Bob Dylan und Die Ärzte spielen – repräsentiert durch die Texte von Thomas Schubert und die Kompositionen von Christoph Wilcken.

Das ist „unplugged“ – die drei Künstler nehmen sich große Songs, markante Künstler vor und widmen ihnen Bild, Wort, Klang. Von Klassik bis Punk, von Jazz bis Krautrock, von den Toten Hosen bis zu Miles Davis. Die Bilder, die Reime und die Kompositionen schaffen etwas, was sonst die Musik vermag – sie lösen Gefühle bei uns aus und versetzen uns in Bewegung.

Aus der Hirnforschung wissen wir: Die Wirkung von Musik hängt viel stärker bei der Person ab, die sie hört, als von der musikalischen Information an sich. Die Wissenschaftler haben herausgefunden: Die Signale wirken in unterschiedlichen Arealen unseres Gehirns, Musik löst bewusste und unbewusste Reaktionen aus, deren Intensität viel mit unseren eigenen Erfahrungen und Assoziationen zu tun haben. Besonders erstaunlich finde ich einen Umstand: Musik kann unseren rationalen Apparat aushebeln. Bevor überhaupt anfangen, über ein Lied nachzudenken, erreicht das Signal zuerst das sogenannte limbische System in unserem Gehirn. Dieses Nervenzentrum kann uns dann in einen anderen Zustand versetzen, Botenstoffe aussenden oder Bewegungsimpulse auslösen. Immer wenn wir an Musik denken, fühlen wir sie also auch. Kennen wir die Melodie bereits? Ist es ein Hit? In welcher Situation haben wir ein Lied gehört – war es ein tragischer oder ein euphorischer Moment?

Musik ist Schwarzwälder Sahnetorte der kognitiven Rezeption – opulent, schmackhaft und doch bei jedem Bissen etwas irrational.

Insofern ist es allzu verständlich, dass sich die Macher von „unplugged“ der Musik mit Bildern, Worten und Tönen nähern. Schubert, Spierling, Wilcken drücken auf ihre Weise aus, was ihnen die Musik mitgegeben hat. Sie spielen mit Liedzeilen, sie übersetzen Tonarten in Farben und Stimmungen in Formen. Sie schaffen Momentaufnahmen und sie werden auf ihre Weise auch zu Songwritern. In ihrem spielerischem Umgang mit Wörtern und Stimmungen arbeiten die drei Künstler dabei nicht anders als Musiker, denen sie ihre Werke widmen. Denn oft sind bekannte Lieder nichts anderes als eine Ode an einen Moment.

Nehmen wir ein Beispiel aus Berlin, West-Berlin im Jahre 1976. Gar nicht weit von hier, in der Hauptstraße in Schöneberg lebt ein talentierter amerikanischer Musiker namens James Osterberg. Er hat ein latentes Drogenproblem, geht gerne auf Parties und David Bowie, der damals auch in Berlin lebte, nimmt ihn gerne mal mit in Ausstellungen. Bowie und Osterberg sind damals oft gemeinsam ins Brücke-Museum gegangen und von dort aus weiter an den Wannsee. Bei diesen Ausflügen hat James Osterberg die Berliner S-Bahn zu schätzen gelernt und irgendwann hat er dann ohne Bowie fast täglich einen Ausflug mit seinem liebsten Verkehrsmittel unternommen. Aus der Liebe zur S-Bahn ist ein Song entstanden, den James Osterberg 1977 in den Hansa-Studios aufgenommen hat. Die Ode an die Berliner S-Bahn heißt „The Passenger“ und James Osterberg ist bekannter unter seinem Künstlernamen „Iggy Pop“. Der Song ist ganz simpel, irgendwie auch monoton. Das Gitarrenriff besteht aus vier Akkorden, die Kadenz löst sich im Schlussakkord auf. Dazu nölt Iggy Pop den Text, den er teilweise bei einem Gedicht von Jim Morrisson entliehen hat. Aber ehrlich: Hätten Sie bei „The Passenger“ an die Wannseebahn gedacht? Natürlich ist bei „unplugged“ Iggy Pop und seinem Song ein eigenes Werk gewidmet. Thomas Schubert dichtet:

„Nude and rude,
den Mittelfinger auf Shit,
Krach, Krawall, Exzess – radikaler Rasierklingenritt.
Mission Provokation: No risk, no fun.
Auf dem Todestrip Live fast die young“

Ich reiße Zeilen aus dem Kontext. Das ist so, als ob ein Song verrauscht aus dem Kofferradio quäkt. Doch wir wollen hier und heute lieber einen vollen Klang. Lassen wir uns darum jetzt ein auf das trimediale Abenteuer „unplugged“ auf diese Liebeserklärung an die Musik. Von drei Künstlern, deren Werken man anmerkt, dass sie selbst einmal sein wollten wie Iggy Pop, Jim Morrisson oder Bob Marley. Vielleicht ist ja ein Welt-Hit, dabei, meine Damen und Herren, liebe Gäste – vertrauen Sie bitte heute einfach mal Ihrem limbischen System.